Hat sie einen Kopf oder hat sie keinen?

Es ist eines der bekanntesten Gemälde der Welt, und doch haben bis 1988 nur Auserwählte  Gustave Courbets “Ursprung der Welt” zu Gesicht bekommen. Der weibliche nackte Torso ohne Kopf, in einer stark verkürzten Position mit direktem Blick auf die Genitalien galt lange als vollständiges Gemälde. Jetzt soll es nur ein Fragment sein: Ein Kunstsammler glaubt bei einem Trödler den dazugehörigen Kopf gefunden zu haben.  Sah das Bild  ursprünglich ganz anders aus?

Eine “verdeckte” Geschichte

Der türkischen Diplomat und Kunstssammler Khalil Bey gab Courbet 1866 den Auftrag zu diesem Werk. Er  besass bereits eine grosse Sammlung von weiblichen Akten, die seinen Besuchern frei zugänglich waren. Nur dieses Gemälde versteckte er hinter einem grünen Vorhang und zeigte es nur einigen wenigen seiner Gäste. Der Französische Schriftsteller Edouard de Goncourt kaufte es dann 1889 von einem Antiquitätenhändler. Aber auch da verdeckte eine Holztafel, die man nur mit einem Schlüssel öffnen konnte, das eigentliche Bild. Diese zeigte das 1874–77 entstandenen Bild „Le château de Blonay“, ebenfalls ein Gemälde von Courbet. Von der Galerie Bernheim jeune, eine der bekanntesten Galerien in Paris, kam das Werk nach Ungarn und wieder zurück nach Frankreich, wo es schlussendlich der Psychanalytiker Jacques Lacan 1955 von einer Privatsammlung kaufte. Er hängte das Bild in seinem Landhaus auf, jedoch nicht ohne vorher von seinem Stiefbruder den surrealistischen Maler André Masson einen verschiebbaren Doppelrahmen bauen und den vorderen Teil desselben mit einer Landschaft bemalen zu lassen. Diese folgte genau die Linienführung des verdeckten Bildes. Nach dem Tod Lacans gelangte das Bild 1981 in das Brooklyn Museum in New York  und wurde 1988 das erste Mal in der Öffentlichkeit gezeigt. Seit 1995 ist es im Musée d’Orsay in Paris.

 

Fund einer “Lasziven Schönen” – eine Sensation?

Die Geschichte geht weiter: Ein Kunstsammler kaufte 2010 bei einem Pariser Antiquitätenhändler das Portrait einer “lasziven Schönen”  für 1400 Euro. Zu Hause angekommen stellt er fest, dass das Bild an den Rändern beschnitten wurde. Es muss also Bestandteil von einem grösseren Gemälde gewesen sein. Nach vielen Stunden in der Bibliothek und intensiven Recherchen im Internet  findet er eine Abbildung von  “l’Origine du monde”.  Er vergrössert die Abbildung, legt beide Bilder übereinander, und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: beide Bilder müssen zusammengehören. Im daraufolgenden Juni entdeckt dieser Sammler per Zufall eine Reproduktion der “Frau mit dem Papagei” von Courbet, die sich im Metropolitan Museum in New York befindet. Er vergleicht die beiden Köpfe und stellt eine grosse Ähnlichkeit zwischen beiden Portraits fest.

Er muss nun Gewissheit haben und zeigt seinen Fund Jean-Jacques Fernier, dem Leiter des Institut Courbet, der ihm bestätigt, dass “Origine du monde” ein unvollständiges Werk ist. Die laszive Schöne muss muss sich nun aufwändigen technologischen Untersuchungen am Centre d’analyses et de recherche en art et archéologie (Caraa) unterziehen. Und tatsächlich: Malweise, Pinselführung und Leinwand stimmen überein. Fernier nimmt das Werk in den catalogue raisonné von Gustave Courbet Tome III auf. Er fügte die beiden Gemälde in einer von ihm angefertigten Skizzenrekonstruktion zusammen: Nach Ansicht des Experten könnte das vollständige Bild gut 100×120 cm betragen.

Oder doch zu schön, um wahr zu sein?

Nicht alle sind über diesen Fund so euphorisch: Das Musée d’Orsay hält sich bedeckt. Die Direktorin vom Musée Courbet in Ornans ist von dieser “Sensation” nicht überzeugt: Zum Einen sieht sie keinerlei Ähnlichkeit in den anderen Portraits des Künstlers zum anderen ist sie der Ansicht, dass ein kompletter Akt nicht dem Auftrag von Khalil Bey entsprochen hat. Auch das Labor bestätigt lediglich die Tatsache, dass die Pigmente und die Leinwand den Gepflogenheiten der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert entsprechen. Viele anderen Künstler dieser Zeit verwendeten genau die gleichen Materialien. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass diese “Entdeckung” nicht in einer anerkannten Kunstzeitschrift, sondern in dem französischen Society Magazin “Paris Match”, zwischen Events und Mode, als Erstes besprochen wurde.

Über einen grösseren weiblichen Akt, den Courbet oder jemand anderer zerschnitten hätte,  weiss man nichts. Doch aus einigen überlieferten Unterhaltungen und von Zeugen, die einen Blick hinter den grünen Vorhang riskieren durften, ist dieses Bild als ungewöhnlicher, “schwer zu beschreibender” weiblicher Torso, ohne Kopf, Arme und Beine bekannt.  Courbet war ein Sammler erotischer Fotografien und pflegte ungewöhnliche Ausschnitte und Motive für seine Gemälde zu verwenden. Es war auch nicht das erste Mal, dass er mit seiner Malerei provozierte.

Der Leiter des Institut Courbet räumt ein, dass “l’Origine du monde” bei einer “Vervollständigung” seine Intensität verlieren würde. Vielleicht immernoch ein wenig provokant, aber es wäre dann nur eines von den zahlreichen liegenden Akten, die zu dieser Zeit gemalt wurden.

Wunschdenken oder Realität?

Es ist gut, den Dingen auf den Grund zu gehen. Aber manchmal ist es auch gut, die Dinge so zu lassen wie sie sind. Das letzte Wort scheint noch nicht gesprochen worden zu sein.  Ob das Bild tatsächlich grösser war, mögen Experten entscheiden. Man wird weitersehen, bis zur Ausstellung  “L’Origine du Monde” in Ornans 2014. Ich halte Sie auf dem Laufenden.

 

Quellen:

Hier wird die wechselhafte Geschichte des Gemäldes ausführlich beschrieben;  www.welt.de.

 

 

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